Standards in der Forschungspraxis

Standards in der Sozialstrukturanalyse

Gerhard Schulze hat in seinem Standardwerk „Die Erlebnisgesellschaft“ (1992) den Begriff „Soziales Milieu“ wegeweisend geprägt. Der Begriff beschreibt die Einteilung der Gesellschaft in Ähnlichkeitsgruppen. Diese Gruppen weisen spezifische Existenzformen und eine nach innen hin gerichtete Kommunikation auf. Der Begriff „Existenzform“ bezieht sich auf gemeinsame bzw. ähnliche Wertvorstellungen und Bewertungsmaßstäben (Geschmack) sowie gemeinsame, ähnliche Handlungsmuster.

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Seit den späten 1970er Jahren setzte sich die Forschungsstrategie des Sinus-Instituts (1974 gegründet als „Sozialwissenschaftliches Institut Nowak und Sörgel, Heidelberg“) durch, Lebensstile mit Hilfe individueller Wertevorstellungen und alltäglicher Handlungsmaximen zu analysieren. Im Mittelpunkt des Forschungsinteresses standen zunächst Politik und Sozialforschung. Erst später zeigte sich, dass das Instrumentarium auch für Marktforschung und Marketing geeignet ist. Dabei scheint es Sinus zu gelingen, ausgehend von qualitativen Lebenswelt-Erkundungen ein standardisiertes Fragebogeninstrument und eine valide Strategie der Auswertung quantitativer Daten entwickelt zu haben. Erhebungs- und Auswertungsinstrument sind jedoch Betriebsgeheimnis.

Heute ist das Sinus-Institut praktisch Marktführer im Bereich der sozialen Ungleichheitsforschung vor allem in Bezug auf Markt- und Konsumforschung, aber auch in Themen der Sozialforschung. Es gibt wenige andere, privatwirtschaftliche Unternehmungen, die im Bereich der sozialen Ungleichheitsforschung aktiv sind.

Im akademischen Bereich an den Universitäten hat man im Grunde diesen Forschungstrend „verschlafen“; in Paneluntersuchungen und Umfragesystem wie ALLBUS (Allgemeine Bevölkerungsumfrage der Sozialwissenschaften, zweijährig erhoben) oder dem Soziooökonomischen Panel (SOEP) ist ein Milieutool oder ein Diagnoseinstrument in Bezug auf Lebensstile nicht implementiert oder entwickelt worden. Bis auf die Erlebnismilieus Schulze’s konnten keine aderen Modelle an Relevanz und Bekanntheit gewinnen.

Viele Modelle – viele Probleme

Vor allem dem Sinus-Institut gelingt es, ein über die Zeit konsistentes Modell (mit den entsprechenden Überarbeitungen) anzubieten. Man kann davon ausgehen, dass dieses Instrument durch die langjährige kontinuierliche Verwendung in zahlreichen Studien den Gütekriterien wissenschaftlicher Arbeit grundsätzlich entspricht. Jedoch werden Kennzahlen, Variablen und der Zuordnungs-Algorithmus dieses Modells als Firmengeheimnis streng unter Verschluss gehalten. Dies gilt augenscheinlich auch für die benachbarten Modelle „Delta-Milieus“, „Sigma-Milieus“ und „sociodimensions“. Die Modelle sind nicht transparent oder replizierbar; Reliabilitäts- und Validitätsuntersuchungen sind nicht möglich. Aus wissenschaftlicher Perspektive ist das Modell daher wenig brauchbar, da die Gütekriterien nicht überprüft werden können.

Literaturquellen:

Schulze, G., Die Erlebnisgesellschaft. Kultursoziologie der Gegenwart, Frankfurt (Main) 1995 (5. Auflage).

Diaz-Bone, Rainer (2004). Milieumodelle und Milieuinstrumente in der Marktforschung [26 Absätze]. Forum Qualitative Sozialforschung / Forum: Qualitative Social Research, 5(2), Art. 28, http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:0114-fqs0402289.

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